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Für die Tötungsmethode in diesen Anstalten hat Prof. Dr. Hermann Paul Nitsche, der bereits bei der Aktion T4 als Obergutachter fungiert, schon 1940 das sogenannte „Luminal-Schema“ entwickelt. Eine leichte Überdosierung dieses Schlafmittels Luminal bei gleichzeitigem Nahrungsentzug soll die Verlegungspatienten unauffällig - aber sicher - töten:
Das geschieht dadurch, dass einmal oder mehrfach den Kranken gewöhnlich zweimal 0,3 Gramm täglich Luminal, eine an sich zulässige, bei schwachem Zustand jedoch für manchen Kranken zu hohe Dosis – manchmal auch dreimal 0,3 Gramm Luminal oder auch andere Barbiturate verabreicht werden, entweder unter das karge Essen (Wasser-/Kohlsuppe - ohne Fett) gemischt, in einem Glas aufgelöst (als sogenannte "Gelbe Suppe") oder als „Anti-Typhusmittel“ gespritzt.
In Verbindung mit einer dann einsetzenden systematischen Unterernährung durch fettlose Kost führt dies in der Regel in ca. 2 Wochen - je nach körperlichem Zustand - zum Tod.
Der Tod tritt dann nach einer dadurch ausgelösten langsam schleichenden Vergiftungs-Reaktion bei fast völliger Ausschaltung des körpereigenen Abwehrsystems als "natürliche" akute Lungenentzündung oder Bronchitis - oder eben tatsächlich - wie amtlich beurkundet bei Erna Kronshage - als "vollständige Erschöpfung des Körpers" ein - ohne weitere äußerliche Gewaltanwendungsspuren - und ist späterhin - als vorsätzlicher Mord - kaum erkennbar ...
An o.g. Besprechung nimmt Dr. Victor Ratka (Tiegenhof) als einer der "praktischen Psychiater" wie bei allen ähnlichen Unterredungen der ehemaligen T4-Akteure zuvor und danach aktiv teil und erhält hier die neuen maßgeblichen Direktiven für seine Tötungsanstalt - wenigstens werden ihm kurz danach die entsprechenden tödlichen Gifte zugestellt.
Diese entsprechenden Medikamente wurden vom Kriminaltechnischen Institut (KTI) des Reichskriminalpolizeiamtes über die zentrale T4-Organisation an die einzelnen Anstalten geliefert. Zuständig war dort der Chemiker Albert Widmann. Nach dortigen Unterlagen gingen entsprechende Lieferungen von Medikamentengiften in ungewöhnlichen Mengen auch an die Gauheilanstalt Tiegenhof/Gnesen.
In den nun folgenden 18 Monaten führen etwa 30 Anstaltsärzte, zum Teil von Nitsche und der T4-Zentrale dazu aufgefordert oder von Lokalbehörden dazu ermutigt, die Tötungen behinderter Patienten durch. Manchmal geschieht dies auch auf eigene Initiative, ohne weitere Genehmigungen oder Weisungen von oben.
(Quelle: Ulf Schmidt, Hitler Arzt Karl Brandt, 2009, S. 373/374).
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- Das Ableben der Patienten erfolgte in separaten “Sterbezimmern”, die mit zwei bis sechs Betten ausgestattet waren.
Vgl. Schwanke, Enno: Die Landesheil- und Pflegeanstalt Tiegenhof. Die nationalsozialistische Euthanasie in Polen während des Zweiten Weltkrieges. Frankfurt am Main 2015, S. 113.
Über diese Krankenmorde gab ein ehemaliger polnischer Pfleger in einer Vernehmung nach dem Krieg Auskunft: „Auf die Frage, ob mir Fälle bekannt seien über Tötung von Kranken durch Verabreichung übermäßiger Mengen von Schlafmitteln, erkläre ich: Derartige Fälle kamen sehr häufig vor und über dieses Thema unterhielten sich die polnischen Pfleger. Ich selbst habe während meines Nachtdienstes auf Abteilung II sehr viele Fälle des Ablebens von Patienten gesehen, die absolut nicht den Anschein eines bevorstehenden Ablebens erweckten. In der Abteilung, in der ich Dienst machte, gab es bis zu 6 (sechs) Todesfälle täglich. Einmal rief ich Jobst [ein deutscher Oberpfleger, d. Verf.] des Nachts zu einem unruhigen Kranken. Jobst kam zur Abteilung, entnahm der Seitentasche seines Mantels eine gefüllte Injektionsspritze und gab – indem er die Spritze in der ganzen Hand derartig hielt, damit ich diese nicht sehen sollte – dem Kranken eine Injektion, welcher nach kurzer Zeit verstarb. Ich habe des öfteren gesehen, daß die deutschen Pfleger … den unruhigen Kranken ein mir nicht bekanntes Mittel verabreichten in Form einer Lösung im Glas. Diese Lösung hatte eine gelbe Färbung, deshalb sagten diese Pfleger, sie verabreichten den Kranken „die gelbe Suppe“. Nach Erhalt dieses Mittels verstarben die Kranken. Während meines Nachtdienstes bemühte ich mich festzustellen, was das für ein Mittel sei, es gelang mir jedoch nicht die Schubladen in den Zimmern der Abteilungsältesten zu öffnen. (…) Ich kenne Chloralhydrat als Schlafmittel. Vor dem Kriege gaben wir den Kranken diese Lösung in sehr kleinen Dosierungen, indem wir die Tropfen in einen Teelöffel auszählten. Während des Krieges verabreichten die deutschen Pfleger den Kranken dieses Mittel glasweise. Ich bin davon überzeugt, daß eine Überdosierung dieses Schlafmittels zahlreiche Todesfälle nach sich zog und ich selbst war Zeuge dessen.“
In einem konkreten Fall gab der Pfleger an: „Eines Tages übergab mir Hoppe [ein deutscher Pfleger, d. Verf.] als ich den Nachtdienst in Abteilung IV übernahm, einen aus dem Gefängnis in Sieradz eingelieferten Patienten, der im Separatzimmer lag, wobei er mir sagte, der Patient sei behandelt worden, er hätte eine ansteckende Krankheit und deshalb hätte ich mich ihm nicht zu nähern. Ich ging jedoch in das Separatzimmer hinein. Der Kranke war ein kräftiger Mann, er hatte Schaum auf den Lippen, er atmete schwer, der Pulsschlag war kaum festzustellen. Gegen Morgen war der Kranke verstorben. Wie ich annehme, infolge einer Injektion.“
Gutachten von Prof. Dr. Josef Radzick - Staatsarchiv Hamburg (im folgenden: SAHH), 741-4 Fotoarchiv, Film A81/39 D: Aussage Wojciech Ches vom 23.05.1972.
Aber nicht nur durch Medikamentenvergabe wurde getötet, sondern auch durch die bewusste Unterversorgung mit Lebensmitteln, wie der gleiche Pfleger in den Vernehmungen anmerkte: „In diesem Zusammenhang möchte ich hinzufügen, daß die hohe Sterblichkeitsziffer der Kranken gleichfalls verursacht worden war durch die mangelnde Ernährung der Patienten. Ich nehme sogar an, daß dies beabsichtigt war. Ich habe nämlich gesehen, daß die Kranken verschiedene hinsichtlich der Menge Essensportionen erhielten. Die arbeitsfähigen Kranken erhielten reichlichere Portionen als diejenigen, die schon nicht mehr arbeiten konnten. Letztere erhielten nämlich völlig unzureichende Portionen um überhaupt den Kranken am Leben zu erhalten. Ich bin der Meinung, daß die Schuld am Aushungern der Patienten die Abteilungsältesten tragen, die darüber entschieden, wie die in die Abteilung gelieferte Ernährungsmenge aufzuteilen sei.“
SAHH, 741-4 Fotoarchiv, Film A81/39 D: Aussage Wojciech Ches vom 23.05.1972.
Die Frage der Arbeitsfähigkeit war nicht das einzige Kriterium, das über Tod oder Leben eines Patienten entschied, sondern auch, inwieweit der Patient sich in den Pflegebetrieb einfügte und dem Personal wenig “Probleme” bereitete. Eine polnische Pflegerin äußerte über die Auswahl der ermordeten Patienten: „Nach meinen Beobachtungen handelte es sich hier um unruhige, laute und insbesondere um solche Kranke, die aggressiv waren oder die Wäsche unbrauchbar machten.“
SAHH, 741-4 Fotoarchiv, Film A81/39 D: Aussage Jadwiga Grotowska vom 23.05.1972.
Quelle: http://www.spurensuche-kreis-pinneberg.de/spur/durch-einen-sanften-tod-erloest-paul-thomsen-und-die-krankenmorde-in-der-gauheilanstalt-tiegenhof/
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Karolina Nowak schreibt in ihrer Magisterarbeit "Die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ im Reichsgau Wartheland 1939-1945", Freiburg 2009:
Da die zum Teil erhalten gebliebenen Bücher der Anstalt die Todesfälle scheinbar nur bis zum 12. Juni 1943 dokumentieren, ging die Staatsanwaltschaft Hamburg in ihrer Anklageschrift gegen Pastor Lensch und andere Verdächtige von einem Ende der systematischen Tötungen zum besagten Zeitpunkt aus. Vergleicht man jedoch die Listen, die jeweils etwas über den aktuellen Bettenstand der Anstalt vermelden, mit den Schreiben, welche Auskunft über die in Tiegenhof aufgenommenen Patienten geben, kann diese Annahme nicht bestätigt werden.
Während die Anzahl der belegten und freien Betten der psychiatrischen Einrichtung von Monat zu Monat auf den Bestandslisten fast unverändert bleibt (durchschnittlich ca. 30 freie Betten monatlich), werden analog dazu fortwährend übergebietliche Aufnahmen von Geisteskranken nach Tiegenhof verzeichnet.
Da für die neu aufgenommenen Patienten bei gleich bleibender Bettenanzahl vor ihrer Ankunft Platz geschaffen werden musste, erscheint ein Ende der gezielten Tötungen in Tiegenhof im Juni 1943 höchst unwahrscheinlich.
Im Juli 1943 werden beispielsweise 60 geistig zurückgebliebene Kinder aus dem Franz-Sales-Haus in Essen in Tiegenhof aufgenommen; im Juni oder Juli 1943 140 Frauen aus Grafenberg und Galkhausen (Rheinland). Für den August 1943 etwa ist die Aufnahme von 493 Geisteskranken und sechs sonstigen Kranken nach Tiegenhof verzeichnet. Im Gegenzug ist in den vorliegenden Dokumenten stets die beinahe volle Auslastung der Bettenanzahl aufgeführt, wie z. B. in der Aufstellung über die im Warthegau vorhandenen Betten vom 1.12.1943, bei gleichzeitiger Aufnahme von 100 Personen aus Gütersloh (Westfalen) im selben Monat [darunter dann Erna Kronshage].
-->Textquellen: Michael Wunder u.a. : Auf dieser schiefen Ebene..., 1987, S. 184 - und Wunder/Romey (s. Link "Gelbe Suppe")
Situation in der Tötungsanstalt Tiegenhof - belegt durch Zeugenaussagen:
Weitere gerichtliche Aussageprotokolle zu den Zuständen in Tiegenhof lesen Sie hier ...
finden Sie hier ...
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Es folgen Zitate aus der "Anklageschrift gegen [Pastor Friedrich Karl] Lensch und Dr. [Kurt Gerhard] Struve vom 24. April 1973 - Az. 147 Js 58/67", S. 347 ff der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg:
Getötet wurde in der Anstalt Tiegenhof durch zwei Methoden, die sich jedoch nicht gegenseitig ausschlossen, sondern einander ergänzten. Die eine Methode war, durch eine Überdosis von Medikamenten, die entweder injiziert oder dem Pflegling eingegeben wurde, den Tod herbeizuführen.
Die Eingabe erfolgte wiederum auf zwei verschiedenen Arten, einmal durch Beimischung in die Nahrung, um eine Vergiftung herbeizuführen, zum anderen durch Auflösung in einem Glas, um ein Medikament vorzutäuschen. Der letzte Fall wurde als Eingabe der "Gelben Suppe" bezeichnet.
Bei den "Medikamenten" handelte es sich um eine Überdosis von Luminal, Morphium—Skopolamin und Chlor-Alhydrat [sic!]. ...
Die zweite Tötungsmethode war der Entzug von Nahrung. ...Während Chlor-Alhydrat [sic!] als Schlafmittel sonst nur in sehr kleinen Mengen tropfenweise in einem Teelöffel gegeben wurde, wurde das Mittel nunmehr glasweise den Opfern eingegeben. Nach Eingabe dieser Mittel trat der Tod der Opfer ein. ... Von der Anstalt Tiegenhof wurde nunmehr die Chemikalie Chlor-Alhydrat [sic!] von der Kanzlei des Führers kiloweise bezogen. ...
Der übergroße Gebrauch der Mittel Luminal und Morphium-Skopolamin fiel auch dem Zeugen Orlicki auf, der als Arztpraktikant die Anstaltsapotheke leitete und die "Medikamente" aus der Apotheke in Gnesen bezog. Dem Zeugen Orlicki wurden von Pflegern die Bücher übergeben, in denen die von den Ärzten unterschriebenen Bestellungen waren. Er händigte dann den Pflegern die bestellten Medikamente aus. Während, zuvor Luminal in Stücken zu höchstens zehn Ampullen ausgehändigt wurde, wurde mit Beginn des Eintreffens der Transporte aus dem Reich Klinikpackungen mit 50 oder 100 Ampullen angefordert. Dasselbe galt für Skopolamin. ...
Widerstrebende Pfleglinge wurden zur Einnahme der tödlichen Dosis gezwungen. ...
Auf diese Weise wurden in den verschiedenen Abteilungen der Anstalt Tiegenhof täglich jeweils bis zu sechs Pfleglinge und in der Abteilung 5 - Frauen - der sogenannten Todesabteilung, bis zu 12 Pfleglinge getötet. ...
Ausgewählt wurden vor allem Pfleglinge, die der Anstalt lästig waren, weil sie Schwierigkeiten machten, aggressiv oder auch nur arbeitsunfähig. ...
Die Auswahl dieser Opfer wurde von den deutschen Ärzten der Anstalt, zusammen mit den Oberpflegern und Oberpflegerinnen der betreffende Abteilungen getroffen. ...
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Von den zuständigen Ärzten, Pflegerinnen und Pflegern und den einweisenden Verwaltungsbeamten des "Reichsgaues Wartheland" in Posen entgingen fast alle einer Anklage. Sie arbeiteten zum Teil sogar an herausgehobener Stelle nach dem Krieg in ihren Funktionen bis zu ihrer Pensionierung weiter, zumeist im Bundesgebiet.
Als amtliche Todesursache wurde bei Frauen zumeist "allgemeine Entkräftung", "allgemeine Erschöpfung" und "allgemeiner Kräfteverfall" angegeben, bei Männern oft "Marasmus".
- Erna Kronshage wird am 19. (abends) oder am 20.02.1944 gegen 09.30 Uhr ermordet - so oder ähnlich wie in den o.g. Anklageschriften in anderen Fällen beschrieben - gerade einmal 100 Tage nach der Deportation - was dann von amtlicher Seite beurkundet wird als "vollkommene Erschöpfung... [...- des Körpers]"
Da die zum Teil erhalten gebliebenen Bücher der Anstalt die Todesfälle scheinbar nur bis zum 12. Juni 1943 dokumentieren, ging die Staatsanwaltschaft Hamburg in ihrer Anklageschrift gegen Pastor Lensch und andere Verdächtige von einem Ende der systematischen Tötungen zum besagten Zeitpunkt aus. Vergleicht man jedoch die Listen, die jeweils etwas über den aktuellen Bettenstand der Anstalt vermelden, mit den Schreiben, welche Auskunft über die in Tiegenhof aufgenommenen Patienten geben, kann diese Annahme nicht bestätigt werden.
Während die Anzahl der belegten und freien Betten der psychiatrischen Einrichtung von Monat zu Monat auf den Bestandslisten fast unverändert bleibt (durchschnittlich ca. 30 freie Betten monatlich), werden analog dazu fortwährend übergebietliche Aufnahmen von Geisteskranken nach Tiegenhof verzeichnet.
Da für die neu aufgenommenen Patienten bei gleich bleibender Bettenanzahl vor ihrer Ankunft Platz geschaffen werden musste, erscheint ein Ende der gezielten Tötungen in Tiegenhof im Juni 1943 höchst unwahrscheinlich.
Im Juli 1943 werden beispielsweise 60 geistig zurückgebliebene Kinder aus dem Franz-Sales-Haus in Essen in Tiegenhof aufgenommen; im Juni oder Juli 1943 140 Frauen aus Grafenberg und Galkhausen (Rheinland). Für den August 1943 etwa ist die Aufnahme von 493 Geisteskranken und sechs sonstigen Kranken nach Tiegenhof verzeichnet. Im Gegenzug ist in den vorliegenden Dokumenten stets die beinahe volle Auslastung der Bettenanzahl aufgeführt, wie z. B. in der Aufstellung über die im Warthegau vorhandenen Betten vom 1.12.1943, bei gleichzeitiger Aufnahme von 100 Personen aus Gütersloh (Westfalen) im selben Monat [darunter dann Erna Kronshage].
- Die "Gelbe Suppe" -
- Unter Speisen gemischte oder im Wasserglas aufgelöste Barbiturate (Luminal oder Chloralhydrat) ...
- ...oder die "Todesspritze" pur: Die letztendlich tödliche Dosis Morphium-Skopolamin oder ein anderes Barbiturat - nach einem Hungermartyrium mit Überdosierungen ...
Ansicht von typischen Gebäuden in Dziekanka/Tiegenhof
Situation in der Tötungsanstalt Tiegenhof - belegt durch Zeugenaussagen:
Zitate aus dem Buch: Wunder, Genkel, Jenner: Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr - Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Hamburg 1987, Seite 184 ff:
"Nachdem die früheren Insassen fast alle weggemordet waren, übernahm die „Gau-Heilanstalt Tiegenhof" ab Mitte 1941 die Funktion einer Tötungsanstalt für Anstaltsinsassen, die aus dem nördlichen Reichsgebiet antransportiert wurden. Die Methoden waren Verhungernlassen und/oder Verabreichen von überdosierten Medikamenten wie Luminal, Skopolamin und Chloralhydrat.
Die Medikamente wurden teilweise durch Spritzen injiziert oder durch Klistiere eingeführt, zum Teil auch in der Nahrung aufgelöst. Vom Anstaltspersonal wurde bei letzterer Methode von der „gelben Suppe" gesprochen. Auf diese Art und Weise sind im Tiegenhof noch einmal mindestens 1200 Menschen in den Jahren ab 1941 ermordet worden.
Die ab 14. November 1941 eintreffenden Hamburger Sammeltransporte gehörten mit zu den ersten neuen Opfern im Tiegenhof. Die Frauen wurden in Pavillon 5 untergebracht, die Männer in Pavillon 6. Beide Pavillons enthielten separate Tötungszimmer, in denen den wehrlosen und entkräfteten Opfern die Injektionen gegeben wurden oder die „gelbe Suppe" eingeflößt wurde.
Aus den späteren Aussagen einiger Familienangehöriger, die Besuche im Tiegenhof unternommen hatten, wissen wir, was die Opfer vor ihrer Tötung dort durchlitten haben müssen. Die Mutter von Rolf Hink berichtete beim Ermittlungsverfahren gegen Pastor Lensch Ende der 60er Jahre, daß sie Pfingsten 1942 ihren Sohn täglich zweimal im Tiegenhof besucht habe. Er sei zu einem Skelett abgemagert gewesen. An den Beinen habe er große, offene Wunden gehabt. Sie habe festgestellt, daß alle Pfleglinge ärztlich ungenügend betreut waren. Die gleiche Beobachtung habe sie bei vielen anderen ehemaligen Pfleglingen der Alsterdorfer Anstalten gemacht, die sie im Tiegenhof wiedererkannt hatte. Diese Pfleglinge hätten alle jämmerlich und heruntergekommen ausgesehen. Ihr Sohn und andere Pfleglinge hätten ihr gegenüber geklagt, daß es täglich lediglich Sauerkohl und eine Art Wassersuppe zu essen gegeben habe. Im August 1942 sei sie nach einer Mitteilung der Anstalt, daß ihr Sohn schwer erkrankt sei, wiederum nach Tiegenhof gefahren. Sie sei dort an sein Bett vorgelassen worden, ihr Sohn sei aber nicht mehr ansprechbar gewesen. Sie habe dort den ganzen Tag über gesessen. Der Stationsarzt, den sie gefragt habe, ob ihr Sohn noch einmal das Bewußtsein erlangen werde, habe zu ihr wörtlich gesagt: „Er ist fällig."
Während sie am Bett gesessen habe, sei ihr aufgefallen, daß er stark nach Morphium gerochen habe. Sie habe den Eindruck gehabt, daß man ihren Sohn wie auch die anderen bewußt verhungern ließ.
[Zeugenaussage Hink, Vernehmungen zum Verfahren 147 Js 58/67, Band II Blatt 204 ff.] Rolf Hink starb am 7. 8. 1942 im Tiegenhof. Als Todesursache wurde „Fieberhafter Darmkatarrh" angegeben.
Auch die spätere Aussage des Vaters von Herbert Barkmann beschreibt die ungeheuerlichen Zustände im Tiegenhof. Seine Frau besuchte dort den Sohn im Februar 1942. Sie habe feststellen können, daß der Junge völlig unzureichend ernährt gewesen sei. Mittags hätten die Pfleglinge Wassersuppe und zum Abendbrot zwei Scheiben trockenes Brot sowie Pellkartoffeln erhalten, die aus der Hand des Pflegers auf die Scheiben Brot gequetscht wurden. Die Pfleglinge seien wie Vieh gefüttert worden. Seine Frau sei von den Verhältnissen im Tiegenhof völlig erschüttert gewesen. Etwa eine Woche vor Ostern 1941 hätten sie die Nachricht erhalten, daß der Sohn verstorben sei, mit der Anfrage, ob eine Beerdigung im Tiegenhof oder eine Einäscherung in Frankfurt/Oder stattfinden solle. Sie hätten sich entschlossen, ihren Sohn im Tiegenhof beerdigen zu lassen. Er sei nach Tiegenhof gefahren und sei dort am 2. Osterfeiertag 1942 eingetroffen.
Er sei von der Bahn aus direkt zur Leichenhalle gegangen und habe gehofft, dort seinen Sohn zu sehen. In der Halle hätten mehrere Särge gestanden. Er habe einige Deckel abgehoben und in einem Sarg die Leiche seines Sohnes gefunden. Sie hätte auf ihn einen jämmerlichen Eindruck gemacht. Sein Sohn sei bis zum Skelett abgemagert gewesen. An der linken Schläfe habe er deutlich sichtbar einen großen blau-dunklen Fleck gehabt. Auf dem Wege zur Verwaltung habe er den Leitenden Anstaltsarzt, der das Goldene Parteiabzeichen trug, getroffen. Auf die Frage, woran sein Sohn gestorben sei, habe dieser wörtlich gesagt: „... woran sie alle starben". Dabei habe er auf sein Goldenes Parteiabzeichen gepocht. Als er dann in der Verwaltung die Sterbeurkunde und weitere Papiere seines Sohnes in Empfang genommen habe, habe er in der Pförtnerloge, wo er einige Zeit warten mußte, einen großen Karton mit Ampullen gesehen. Ihm sei damals klar gewesen, daß die Pfleglinge im Tiegenhof getötet wurden. Nach seiner Rückkehr habe er dem damaligen Hamburger Reichsstatthalter Karl Kaufmann in einem Brief berichtet, was er im Tiegenhof erlebt hatte. Darauf sei ihm sinngemäß geantwortet worden, er solle den Mund halten, er wisse wohl nicht, daß man sich gegen einen Führerbefehl nicht beschweren dürfe.
[Zeugenaussage Barkmann, Vernehmungen zum Verfahren Az. 147 Js 58/67 gg. [Pastor Friedrich Karl] Lensch und Dr. [Kurt Gerhard] Struve (s.o. - in den Hamburger NS-"Euthanasie"-Durchführungen verstrickt = Langenhorner Und Alsterdorfer Anstalten), Band I Blatt 195 ff.]"
Symbolbild NS-Tötung |
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Eine kleine Dokumentation zu Dr. Victor Ratka
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