2 - "Todesursache unbekannt" ...




Ansicht einer typischen Diele/Deele
in Ostwestfalen-Lippe - ähnlich der im Mühlenkamp -

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Schon oberflächlich betrachtet fällt an der bruchstückhaften und halbverdrängten Erinnerungsschilderung von Martha zum Tod ihrer Schwester Erna auf, dass die Familie scheinbar doch Gründe dafür verspürte, die offiziellen amtlichen Erklärungen anzuzweifeln und deshalb mit einer eigenen damals bestimmt illegalen und verschwiegenen laienhaften Inaugenscheinnahme selbst nachzuprüfen, ob man eben vierzehn Tage nach diesem plötzlichen Ableben noch vielleicht offiziell verheimlichte Unregelmäßigkeiten, wie etwa Einstiche oder andere Manipulationen an der Leiche findet ... 

Nach einer im Sommer 1943 rigoros durchgeführten Zwangssterilisation gegen den ausdrücklichen Willen  des Vaters, der zu dem Zeitpunkt noch das Sorgerecht für seine jüngste Tochter innehatte, misstraute die Familie anscheinend den amtlichen Angaben zum Ableben Ernas - und hatte ja auch allen Grund dazu ... 

Die Familie wollte sich eben selbst überzeugen, ob an den Gerüchten über die vielen zweifelhaften Todesfälle dort in den Heilanstalten etwas dran war ... 

Erna hatte 484 Tage zuvor eine "Auszeit" für sich in der "Heil"-Anstalt in Gütersloh durchgesetzt, um sich dort zu erholen und wieder zu Kräften zu kommen. Durch ihre alltäglich zehrenden Landwirtschafts- und Haushaltstätigkeiten sowie die von ihr persönlich empfundene Perspektivlosigkeit, jetzt im Krieg auf dem Hof allein auf ihre ältlichen und kränklichen Eltern gestellt, fühlte sie sich längst schon gänzlich überfordert und ausgelaugt. 

Und nun dieses abrupte Ende, ca. 650 Kilometer entfernt von Zuhause. Und die Kronshages wollten sich natürlich vergewissern, ob denn tatsächlich die sterblichen Überreste von Erna in dem Sarg waren, der da auf den Krackser Bahnhofsgleisen in Senne II in einem Packwaggon der Deutschen Reichsbahn nach wiederum wohl über 650 Bahnkilometern Überführungs-Schienenweg angekommen war - und wofür sie ja alle "entstehenden Kosten" zu tragen hatten ...

Bei den Machenschaften damals (s. Stichwort "Millionen-Becker") ist es kein Wunder, dass in dem wohl penibel geführten handgeschriebenen Sterbe-Protokollbuch in der Institution damals notiert wurde, Erna Kronshage sei bereits am "19. Februar 1944 verstorben" - aber der Termin erst nachträglich auf den "20.02.1944, um 9 Uhr 30", umdatiert und offiziell beurkundet wurde vom dort tätigen deutschen Besatzungs-Standesamt ... - außer diesem beurkundeten Todeszeitpunkt liegen dazu in der Anstalt "Tiegenhof/Dziekanka" wohl keine weiteren "amtlichen" Unterlagen vor ...

Die "Leichenschau" zu Hause musste klammheimlich und ohne jedes Aufsehen geschehen - und dazu gehörte Mut und unbedingte Verschwiegenheit - und eine gehörige Portion "Verschlagenheit" in dieser NS-Zeit. 



Packwaggon der Deutschen Reichsbahn (bearbeitet)


Schreinerwerkstatt


Siegelmarke "Irrenanstalt"
Tiegenhof/Dziekanka, Gnesen, Provinz Posen









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Und nach der privaten laienhaften Inspizierung  - ohne irgendwelche eklatanten Unregelmäßigkeiten ausgemacht zu haben - wurde der Leichnam im Sarg dann in der Deele des Mühlenkamps aufgebahrt, ehe er dann mit der örtlichen Leichenkutsche abgeholt und zum Friedhof in Senne II gebracht wurde, wo die Beerdigung am Sonntag, dem 05.03.1944, nachmittags um 15.00 Uhr stattfand.


All diese Zweifel und all dieses Misstrauen und all diese klammheimlichen Aktivitäten schlugen sich in jener Zeit des Verschweigens, des Abspaltens als eine ganz "normale" Todesanzeige - 1-spaltig/60 mm hoch - in der Tageszeitung nieder ... eigentlich genauso wie die Todesanzeigen für die "Gefallenen" an der Front damals - nur das Zeichen des "Eisernen Kreuzes" fehlte: "Fern der Heimat starb plötzlich und unerwartet nach langer, schwerer Krankheit " - aber der in der Sterbeurkunde angegebene Todestag, der 20.02.1944, wurde vielleicht bewusst nicht genannt... 

Und dabei hatte der Vater Adolf Kronshage doch eine "Krankheit" seiner Tochter Erna in vielen Briefen an die Anstalt Gütersloh und an die Erbgesundheitsgerichte stark bezweifelt und immer wieder auf eine Entlassung aus der Anstalt gedrungen - bis hin zum (wenigstens angedrohten) Widerstand - was in diesen Zeiten durchaus Mut und Zivilcourage erforderte ...

Lediglich im Sterbebucheintrag der Kirchengemeinde Senne II vom 05.03.1944 verzeichnete Pastor Holzapfel den Hinweis "Todesursache unbekannt. Sie starb in einer Anstalt für Geisteskranke in Tiegenhof, Krs. Gnesen" - zur damaligen Zeit sicherlich auch Ausdruck eines "stillen Protestes" - denn die amtliche Todesursache: "Erschöpfung" war ja dem Pastor durch die amtliche Sterbeurkunde durchaus bekannt ... s. auch hier:



  • "Todesursache unbekannt - Sie starb in einer Anstalt für Geisteskranke in Tiegenhof, Kr. Gnesen."

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Aber mit dem Tod des Vaters Adolf Kronshage - 4 Monate später, im Juni 1944, mit 68 Jahren - verschwand der explizit "kritische" Geist zum Ableben Ernas auch in der Familie oder trat zumindest in den Hintergrund. Im weiteren Nachempfinden wurde dieser als "eigenartig" und "plötzlich" erfahrene Tod Erna's schamhaft verschwiegen und nur auf ausdrückliche Anfrage bruchstückhaft und widerwillig kommuniziert.



 

In einem Rundschreiben von Hans-Joachim Becker, einem leitenden Mitarbeiter der T4-Tarnorganisation „Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten“ (ZVSt) vom 10. 7. 1943 mit dem Titel: "Merkblatt für die Aufnahmeanstalten von Geisteskranken aus anderen Reichsgebieten', Direktionsregistratur 1382/43, M. Abt. 209, WstLA" - werden alle Eventualitäten zum "Ableben" und zur "Überführung" penibel genau geregelt: 
  • ..."Leichenüberführungen: Bestehen Angehörige trotz der schwierigen Verkehrslage auf Überführung der Leiche, so haben sie alle entstehenden Kosten zu tragen."
In seiner Aussage nach dem Krieg - vom 4. März 1947 vor der Staatsanwaltschaft Kassel - erklärte Becker: „Man hatte bei der Tötung von Geisteskranken an alles mögliche gedacht, aber auf dem Abrechnungssektor war eine Tarnungslücke übrig geblieben ... Ich wurde dringend gebeten, doch wenigstens dem Verwaltungsdurcheinander abzuhelfen ... Bei dieser Gelegenheit erkannte ich, wie völlig ahnungslos die offenbar alle aus Parteikreisen stammenden leitenden Persönlichkeiten in verwaltungsmäßiger Beziehung waren.“ Als Lösung schlug Becker die Gründung einer „Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten (ZVSt)“ als weiteres Schein-Unternehmen der "Euthanasie"-Zentraldienststelle-T4 (benannt nach dem Dienstsitz: Berlin, Tiegartenstraße 4) vor, die die Abrechnung mit den Kosten- bzw. Rententrägern zentral vornahm. Diese organisatorische Neuregelung brachte drei entscheidende Vorteile mit sich:
    • Arbeitserleichterung für die diversen Aufnahmeanstalten und Kostenträger
    • Ausgleich der unterschiedlichen Pflegesatzhöhen beim Anstaltswechsel
    • Beitrag zur Geheimhaltung des Krankenmordes, da den Kostenträgern die tatsächlichen Sterbeorte nicht mehr bekannt wurden.
    Nebenprodukt dieser Zentralisierung war weiterhin die Möglichkeit durch fingierte Sterbedaten noch für Zeiten nach dem Tod der Patienten die Unterbringungskosten von den Kostenträgern einzufordern. In der fortgeschrittenen Praxis wurde das offizielle Sterbedatum um etwa zwei Wochen über das tatsächliche Todesdatum hinausgeschoben. Die so gewonnenen „Mehreinnahmen“ beliefen sich auf eine erhebliche Höhe und trugen Becker den Spitznamen "Millionen-Becker“ ein.(WIKIPEDIA)

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