8 - Es spitzt sich zu ...



Das "Mühlenkamp"-Gehöft aus verschiedenen Perspektiven


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Frau Alma R.’s Situationsbeschreibung als Zeitzeugin:

„Also unmittelbar, bevor sie eskalierte, diese Situation im Mühlenkamp um Erna, soll sie ja verstärkt ihre Freundin von nebenan, die Olga K., besucht haben. Nee, ihre Mutter fand das gar nicht gut. Aber was fand die Mama Anna schon gut von dem, was die Erna in ihrer allzu knappen Freizeit machte.
Die Erna ist da so hineingeschlittert, als letztes Kind ihrer Eltern ebenso wie als Kind ihrer Zeit. Ihr Schicksal war es, in immer stärkere Zerrissenheit zu gelangen, sich nicht eindeutig entscheiden zu können, eben auch zwischen den Fronten zu stehen. Der äußere Krieg wurde auch gleichzeitig in ihr zu einem inneren Krieg.
Für Erna war das eine zunehmend ausweglose Situation. Wir alle, ihre ehemaligen Schulkameradinnen, kamen im Nachhinein besehen insgesamt besser dabei weg, trotz aller massiven Nachstellungen durch den politischen Gegner und dem furchtbaren Schicksal unserer Eltern hier und da. Mein Vater wurde ja als früherer SPD-Bürgermeister von Senne II sogar ins Gefängnis gesteckt wegen "Hochverrat", weil er etwas Kritisches zum NS-Staat gesagt hatte. Unsere Eltern hatten ja schon vor Jahren selbst in der Stadt oder in ihren Betrieben nach Lehrstellen für uns gefragt oder nach Arbeitsmöglichkeiten. Bei Erna stand von Anfang an fest, dass sie auf dem Hof erst einmal zu bleiben habe und den Eltern zur Hand gehen müsse. Und das war in ihrer Familie scheinbar völlig normal. Da war man selbst seines Glückes Schmied, und die Eltern hielten Erna nur unnötig fest, eigentlich aus egoistischen Motiven, denn man konnte damals doch längst einen polnischen oder russischen "Fremdarbeiter" für den Hof anfordern. Das haben alle gemacht - und da hatte auch niemand moralische Bedenken. Gerade auch, wenn man Söhne an der Front hatte - und Papa Adolf hatte ja das Asthma und Mama Anna hatte ja das Mutterkreuz in Gold.
Die hätten bestimmt einen "Fremdarbeiter" bekommen - und Erna hätte eine Ausbildung anfangen können - oder wenigstens auch in einer Firma arbeiten, damit sie mal rauskam.
Also, wenn Sie mich fragen, es musste zu einem Eklat kommen. Das war eigentlich abzusehen. Das war deutlich wahrzunehmen. Damals haben wir das so deutlich nicht gesehen. Wir waren noch viel zu jung, noch viel zu unreif, um dafür bereits Antennen entwickelt zu haben. Heutzutage weiß ich, dass es erkennbar war, was dann auch passiert ist.

Das fing damit an, dass Ernas Arbeitskittelkleider morgens immer verschmutzter wirkten, etwas weniger oft gewechselt, und auch ihre Haare schienen weniger gepflegt. Sie selbst schien plötzlich insgesamt weniger gepflegt zu sein. Zuvor erschien sie trotz ihrer schweren Arbeit und der entsprechenden Arbeitskleidung immer noch frisch und adrett. Es war alles sauber, es passten die Farben zueinander, die Holzschuhe waren gereinigt. Und das hörte schlagartig auf, das wurde dann alles etwas schludriger. Ich war ihr ja eine ganz gute Kameradin und Freundin, ich hätte sie auch darauf angesprochen, aber ...

Ja – und dann kamen die Tage, das war dann so im Herbst 1942, an denen wir morgens Erna nicht zu Gesicht bekamen, wenn wir die Fahrräder abstellten auf dem Mühlenkamp-Hof. Wenn wir dann Mutter Anna fragten, wo die Erna sei, ob sie krank sei, dann hat Anna geantwortet, ja, die sei wohl krank, die habe wohl das „faule Fieber“. Faules Fieber. Ja, wer abends bis in die Puppen drüben bei der Freundin zum Quatschen säße und nur noch Flausen im Kopf habe, käme eben frühmorgens nicht aus dem Bett. Und Mutter Anna sagte auch, sie habe schon mit der "Braunen Schwester" gesprochen vom NSV, die ab und zu vorbei käme, weil Erna so "widersetzlich" wäre.
Vereinsamung in einer Großfamilie 
Heutzutage denke ich, wir hätten uns vielleicht mehr kümmern sollen. Denn ihr Zustand hatte sicherlich auch damit zu tun, dass sie auf dem Hof regelrecht "vereinsamt" war, als Jüngste in der Geschwisterkette. Die Schwestern verheiratet oder aus dem Haus - und die Brüder im Krieg an der Front. Und Erna blieb zurück und hatte niemanden mehr zum Reden. Wir hätten mit ihr reden müssen. Da mache ich mir richtig Vorwürfe manchmal. Damals hätte uns die Erna gebraucht, als Freundinnen, als Gesprächspartnerinnen. Aber irgendwie war uns Ernas Leben auch damals schon zu fremd geworden. Ihre Realität hatte mit unserer Realität ja wenig gemein. Und dieser etwas "einfältige" Alltag bei all ihren Begabungen führte dann sicherlich zu dieser eigenartigen "Einweisung" in die Heilanstalt, an der sie ja selbst mit beteiligt war.
Ob das mit dem Bombenabwurf gegenüber dem Mühlenkamp bei Westerwinter im Zusammenhang gestanden hat - das weiß ich nicht. Den hat Erna ja auch wieder ganz anders erlebt, als wir, die wir weiter entfernt wohnten und keine Nachbarn von Ida G. waren.
Wir hätten damals mehr mit Erna reden sollen ...“